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Psychologische
Aspekte der Ätiologie, Diagnostik und Therapie der gestörten Stimme
Vortrag,
gehalten auf dem 5. Wiss. Symposium des dbs Jan. 2004
erschienen in "Hauptsache Stimme", Tagungsbericht dbs, ISBN 3-935204-31-0
Autor: Dipl. Psych. Michael Wolfart
1.
Wie uns Stimme auf- und einfällt...
Die menschliche Stimme ist bis heute -trotz Internet und
e-mail -wesentliches Medium der menschlichen Kommunikation. Gerade weil
sie so allgegenwärtig und selbst-verständlich ist, fällt sie uns als
eigenständiges Phänomen erst auf, wenn sie ausfällt, gestört ist, oder
besonders ungewohnt klingt. Hier gilt, was H.G. Gadamer als die "Verborgenheit
der Gesundheit" beschrieben hat: Der gesunde, der funktionierende Organismus
bleibt uns weitgehend verborgen, unbewußt. Er wird uns erst durch sein
Entgleisen, durch die Krankheit bewußt. Was da aber spürbar, hörbar
und manchmal auch sichtbar wird, ist nicht "die Krankheit selbst" (die
ist nämlich nur ein Name, ein auf Übereinkunft beruhendes Konstrukt)
sondern in der Regel bereits ein Lösungs-oder Kompensationsversuch des
Organismus, um die gestörte Funktion auszugleichen. Typisches Beispiel
sind die sog. hyperfunktionellen Dysphonien, die häufig nur ein Versuch
sind, das nicht mehr funktionale Muster der Unterspannung durch eine
Über-Spannung zu kompensieren..
Das sichtbare oder hörbare Symptom ist nur ein verschlüsselter
Ausschnitt aus dem Lebensfilm, eine Momentaufnahme, die wir erst verstehen
können, wenn wir das Skript des Films, seine Dramaturgie kennenlernen,
aus dem sie stammt. Erst das Hervorlocken und Verstehen dieses Hintergrunds,
der immer zugleich eine leibliche, seelische und kommunikativ-soziale
Dimension hat, der also sowohl Zustand, wie auch Geschichte ist, verdient
eigentlich den Namen Dia-Gnostik (= Hindurch-Erkennen).
Wir nennen diese Kunst auch Hermeneutik, d.h.
die Lehre vom einfühlenden, verstehenden Finden. Wenn sich Diagnostiker
und Patient über den Titel und Inhalt dieses Films einig werden und
darüber hinaus auch darüber verständigen können, wie der Film denn nun
weitergehen sollte, dann hat die Therapie bereits begonnen.
Verhalten wir uns entsprechend dieser Einsicht, so sollte Diagnostik
und Therapie von Stimmstörungen also immer ein höchst individuelles
auf den einzelnen Patienten und seine bio-psycho-soziale Situation zugeschnittenes
Unternehmen sein. Dies werde ich im Folgenden zunächst illustrieren
durch einige Fallgeschichten.
Dabei beschreibe ich das Vorgehen so, wie es derzeit in unserer Abteilung
üblich ist. Daß dies keineswegs immer und überall so läuft, vielmehr
ganz unterschiedlich verfahren wird, darauf werde ich später noch eingehen.
2.
Fallvignetten:
Eine 32-jährige Frau hat nach einem Infekt mit Halsschmerzen
eine Heiserkeit entwickelt, die nach Abklingen der Erkältung sich so
weit intensiviert, daß die Stimme immer leiser, heiserer und manchmal
völlig aphon wird. Dieser Zustand hielt zuletzt über mehrere Monate
an.
In der phoniatrischen Diagnose werden der anatomisch unauffällige Kehlkopf,
die reizlosen , glatten und seitengleich beweglichen Stimmlippen, sowie
der weitgehend komplette Glottisschluß festgestellt. Die Diagnose lautet
auf "funktionelle Aphonie" (F44.4).
Als Auslöser werden bereits von der Phoniaterin Streßfaktoren angenommen
und es wird schon hier deutlich, daß es sich um eine extrem leistungsorientierte,
leicht anorektisch wirkende Person handelt, die zu permanenter physischer
und psychischer Selbstüberforderung neigt. Sie ist in der Personalvermittlung
tätig und lebt in einer großen europäischen Metropole.
Es wird eine kombinierte psychologisch-logopädische Intensivtherapie
empfohlen.
Im psychologischen Erstgespräch werden drei lebensgeschichtliche Episoden
und Muster eruiert, die strukturell ähnlich sind und in denen jeweils
eine Erwartung an eine wichtige Beziehung enttäuscht wurde.
a) Als auslösenden Konflikt berichtet sie: Ihr Chef, für
den sie unter großen Opfern das Geschäft mit aufgebaut hat, habe sie
um einen Teil der Einnahmen betrogen.
b) Ihr italienischer Freund, der ständig ambivalent bleibt und sich
nicht entscheidet, ob er Freundin, Beruf oder seine Mamma in Rom wichtiger
finden soll.
c) Ihr Vater, der ihr sehr wichtig war, der aber als Manager selten
zu Hause war und dann die Familie ganz verließ. Bei Erwähnung des Vaters
bricht sie in heftiges Schluchzen aus, das ihr selbst unverständlich
erscheint.
Die beiden aktuellen Episoden weisen emotionale Parallelen
mit der Vater-geschichte auf. Gleichzeitig wird deutlich, daß die Patientin
als bisher erfolgreiches Lösungsmuster gelernt hat, daß Leistung den
Hunger nach Anerkennung stillen kann.
Meine Hypothese ist also, daß das bisher gut funktionierende Krisen-Muster
der Patientin durch die Massierung der Fälle und durch ihre psychophysische
Überforderung zusammengebrochen ist. Das, was bisher nicht gefühlt,
nicht gezeigt werden durfte, sondern durch berufliche Höchstleistung
überspielt werden mußte, nämlich die Trauer um das Verlorene, die Enttäuschung
und die Sehnsucht nach Akzeptiert-und Gesehen-werden um ihrer selbst
willen, somatisiert sich und bekommt im Symptom eine zulässige Ausdrucksmöglich-keit,
über die auch geklagt werden darf. Gleichzeitig eröffnet dieses Symptom
scheinbar einen Weg aus dem Konflikt.

In der kombinierten psychologisch-logopädischen Therapie
kann die Patientin sowohl von der körperlichen, wie von der seelischen
Seite her eine "neue Haltung" zu ihrem Konflikt einnehmen lernen. Trauer
ausdrücken ist nun nicht mehr gleichbedeutend mit "den Kampf aufgeben"
oder verlieren. Die Stimme ist innerhalb weniger Wochen wieder voll
da.
Man kann diese Fallgeschichte nun mit verschiedenen theoretischen
Konstrukten analysieren, womit ich Sie im Moment verschonen will. Wichtiger
scheint mir, was therapeutisch geschieht
-
Nicht die theoretischen Erklärungsmodelle, nicht das
theoretische Wissen des Therapeuten spielen die Hauptrolle, sondern
zunächst die Erfahrung der Patientin, daß ihr Konflikt und ihr Verhalten
ohne Wertung verstanden und für plausibel befunden wird.
-
Daraus resultiert die Möglichkeit, ihren Konflikt
selbst zu verstehen, ihn nochmals neu zu formulieren und aus der Sprachlosigkeit
zu befreien.
-
Im geschützten Raum werden nun gezielt alte Deutungs-und
Lebensmuster nochmals formuliert aber auch in ihrer Funktionalität
hinterfragt. Könnte man das ersehnte Ziel nicht auch anders erreichen?
Damit werden neue Lösungsoptionen sichtbar, die die vorläufige Lösung
durch das somatische Symptom überflüssig machen können.
Insofern wäre zwar ein rein phoniatrischer bzw. logopädischer Therapieversuch
zwar möglicherweise auch erfolgreich gewesen, aber er hätte die Patientin
nur in ihr altes dysfunktionales Weltbild zurück entlassen. Er hätte
das Symptom vielleicht "wegtherapiert" , ohne seinen Hinweischarakter
zu verstehen. So aber hat die Patientin die Signalfunktion ihrer Symptomatik
nutzen können und hat begonnen ihre weiche und bedürftige Seite mehr
zuzulassen.
Hier scheint, wie bei vielen plötzlich auftretenden Aphonien
der psychische Konflikt noch weitgehend an der Oberfläche zu liegen
und ist oft durch geschicktes Nachfragen leicht aufzudecken. Man könnte
diesen Typus im Begriffssystem des ICD 10 als akute oder posttraumatische
Belastungsstörungen einordnen.
Ganz anders liegen die Dinge bei der folgenden Geschichte:
Eine 26-jährige Sängerin wird mit einer als psychogen diagnostizierten
Stimmstörung zum psychologischen Gespräch überwiesen.
Sie stammt aus einer bekannten Musikerfamilie und es war klar, daß auch
sie Musikerin werden sollte. Sie hatte nacheinander Klavier, Geige und
Harfe bis fast zur Konzertreife gelernt, hatte die Karriere jedoch jeweils
wegen einer Fingerkuppen-allergie aufgeben müssen. Eigentlich wollte
sie aber schon immer Sängerin werden.
Auch hier war sie zunächst erfolgreich, bekam aber vor dem ersten Engagement
eine Luftröhren- und Kehlkopfentzündung. Jetzt sei - wieder kurz vor
dem Vorsingen - diese dumme Stimmstörung aufgetaucht..
Im Erstgespräch wird deutlich, daß sie ihre Eltern sehr stark idealisiert.
Es sind die besten, die tollsten, die rundum perfekten Eltern. Sie zu
frustrieren, indem die Tochter etwa keine so perfekte Musikerin wird,
in ihrer Leistung nachläßt, oder gar einen anderen Beruf ergreift, scheint
im Horizont dieser Familie ein fast undenkbarer Vorgang.
Auch hier kommt das Symptom mehrmals und sogar in erfindungsreichen
Variationen zu Hilfe. Die jeweiligen Störungen haben Krankheitswert,
zwingen zur Ruhe, müssen behandelt werden. Sie ermöglichen das, was
eigentlich dringend geboten wäre, ohne gegen die steile Familien-Norm
offen zu rebellieren.
Fall-Vignette 2)
Im Unterschied zum vorher dargestellten Fall, ist aber diese Patientin
weit davon entfernt, hier einen Zusammenhang zu sehen. Im Gegenteil,
sie ist eigentlich schon gekränkt von der Tatsache, daß sie zum Psychologen
geschickt wird, daß ihre Stimmstörung nicht als rein somatisch anerkannt
wird. Die phoniatrisch gestellte Diagnose: "Verdacht auf psychogene
Stimmstörung" wird für sie zur Verdächtigung, gegen die sie sich mit
aller Entschiedenheit wehrt.
Nach zwei Sitzungen ließ die Patientin telefonisch mitteilen, daß sie
vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt auf unser Behandlungsangebot
zurückkommen wolle.
Hier kann man nun eher von einer klassischen Konversionsneurose
im psychoanalytischen Sinne sprechen. (Im ICD 10 als dissoziative
oder Konversions-Störungen chiffriert).
Der zugrundeliegende psychische Konflikt wird prinzipiell geleugnet,
weil er der Verdrängung anheimgefallen ist. Wäre die Patientin in der
Lage, den sie belastenden Konflikt bewußt wahrzunehmen und ihn verbal
zu benennen, dann wäre keine Konversion ins Somatische erfolgt. Gleichzeitig
ist der sekundäre Krankheitsgewinn, bzw. das, was das Symptom als Lösung
anbietet zunächst allen anderen Lösungen überlegen. Hier ist keine schmerzhafte
Auseinander-setzung mit sich selbst und der Familie zu erwarten, hier
ist niemand "schuld" an irgend etwas, hier ist man einfach nur krank.
Nun zu einer dritten Fallvignette, die einen ebenfalls
häufig zu beobachtenden Typus von Stimmpatienten beleuchtet:
Eine 57-jährige Patientin wird mir wegen Räusperzwang,
Heiserkeit und Globusgefühl im Hals direkt nach der phoniatrischen Untersuchung
zum psychologischen Gespräch überwiesen.
Ihr Räuspern ist meist schon von weitem im Wartezimmer zu vernehmen.
Es klingt wie ein ärgerliches, gereiztes Bellen, dem gleich ein deutliches
Wort folgend könnte.
Dieses Wort wird man von dieser Patientin jedoch nie hören. Sie wirkt
vielmehr rundum adrett, geordnet und kontrolliert. Selbst beim Erzählen
von äußerst negativen Erfahrungen lächelt sie verbindlich, so als wollte
sie sagen: "Sehen Sie, ich beklage mich nicht, ich schaffe das schon!"
Sie berichtet von einer 8 Jahre anhaltenden extremen mobbing-Erfahrung
durch ihren Chef, dem sie als äußerst korrekte Sekretärin treu gedient
habe. Sie habe zuletzt nur noch im Stehen Mittag gegessen und seit 11
Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Schon seit ihrer Kindheit hat sie
Bedrohungen von außen immer durch gesteigerte Korrektheit bewältigt.
Die Patientin hat eine lange, sorgfältig dokumentierte Geschichte von
vegetativen Störungen, unklaren Organerkrankungen und entsprechenden
Facharzt-Konsultationen aufzuweisen, die bereits in der Kindheit einsetzt.
In den psychotherapeutischen Sitzungen, von denen sie auch bei Krankheit
keine versäumt, zeigt sie eine deutliche Unfähigkeit, ihre eigenen Gefühle
wahrzunehmen bzw. zu benennen. Ihre Mimik ist maskenhaft freundlich
und starr, selbst wenn sie von horrormäßigen Lebenssituationen erzählt.
Einen Zusammenhang zwischen ihren unzähligen kränkenden Lebensereignissen
und ihrer Symptomatik kann sie nicht erkennen. Ihr Therapieziel ist,
wie schon bei allen vorangegangenen vegetativen Erkrankungen klar auf
die Beseitigung des Symptoms fixiert.
Diese häufig chronifizierten Dysphonien habe ich unter
dem Arbeitstitel "Alexithymie" (was so viel heißt, wie Gefühls-analphabetismus)
eingeordnet. Die Patientinnen zeigen häufig eine fassadenhafte Freundlichkeit
und sind in ihrer Gefühlswelt sowohl für andere, wie für sich selbst
schwer erreichbar. (sie tauchen im ICD eher unter den Persönlichkeitsstörungen
auf).
Hier ist die innere Gefühls-Kommunikation seit der Kindheit
gestört. Die daraus entstehende Unfähigkeit, z.B. unerträgliche Situationen
auch als solche wahrzunehmen führt ebenfalls zu körperlichen Symptomen.
Dieser Ausweg kann aber nicht durch Aufdeckung oder Bewußtmachung überwunden
werden. Vielmehr ist hier eine sehr langwierige und mühsame Nachnährung
und Gefühls-Alphabetisierung notwendig, die häufig den Rahmen einer
niederfrequenten psychologischen Therapie sprengt.
Die hier dargestellten drei Typen decken natürlich nicht
das Feld möglicher psychogener Dysphonien ab. Sie sind nur Beispiele
für die enorme Unterschiedlichkeit der Ursachen und Erscheinungsformen
und die notwendiger weise unterschiedlichen Behandlungsform.
Das vorher dargestellte Verlaufs-Modell kann für alle
möglichen psychischen und psychosomatischen Symptome und nicht nur für
Stimmstörungen verwendet werden.
Das Phänomen Stimme hat aber aus psychologischer und anthropologischer
Perspektive einige Besonderheiten, auf die ich kurz eingehen möchte.
3.
Anthropologische Dimensionen der Stimme
Wir wissen aus der Kommunikationstheorie, daß nicht nur
der digitale Inhalt einer Botschaft wichtig ist, sondern auch ihre analoge
Einbettung oder "Begleitmusik", also in unserem Zusammenhang neben Gestik
und Mimik eben die Stimme. (Folie 9: "setz dich endlich durch...!")
Sie können nach einem kurzen Blich auf die Szene schon ahnen, wie es
in dieser Beziehung um die Dominanz bestellt ist und sich vielleicht
sogar den Stimmklang dieser beiden vorstellen.
Wir wissen auch, daß es gerade dieses Medium ist, das
uns emotional verstehen läßt, wie eine bestimmte verbale Botschaft gemeint
ist, bzw. in welche kommunikative Beziehung zu mir sich der Sprecher
setzt (C'est le ton, qui fait la musique). Und wir wissen, daß dies
eine entwicklungsbiologisch sehr früh und elementar angelegte Fähigkeit
ist, die schon den Tieren angeboren ist. Lange bevor das Kind ein einziges
Wort entschlüsseln kann, versteht es den emotionalen, beziehungsmäßigen
Sinn einer stimmlichen Botschaft. (Anthropol. Dimensionen...)
Wir können also festhalten : Die Stimme ist eines der
wichtigsten Medien der Beziehungsgestaltung.
Und dies gilt nicht nur für die Beziehung zwischen den Individuen, sondern
auch für das Verhältnis der Person zu sich selbst, also, ihr inneres
Selbst-Verständ nis, ihre innere Gestimmtheit. Wir hören in der
Stimme auch eine Art akustisches Hologramm der Persönlichkeit hindurchtönen
(=per-sonare), das ähnlich unverwechselbar ist, wie ein Fingerabdruck
oder ein genetischer Code. Ist diese wichtige Konstante der persönlichen
Selbstvergewisserung jedoch durch organische Erkrankung oder Überbeanspruchung,
bzw. falsche Nutzung beschädigt, so wirkt umgekehrt die Wahrnehmung
dieser nun fremd klingenden Stimme ebenfalls auf die Psyche: Ich bin
beunruhigt, verstört, in meinem Identitätsgefühl beeinträchtigt. Dieser
somatopsychische Ablauf sollte immer mit berücksichtigt werden,
zumal er als Rückkoppelung natürlich auch im psychosomatischen Fall
mit dabei ist.
Psycho-somato-psycho-Wechselwirkung

So erscheint es nur logisch und plausibel, daß gerade
unser Stimmapparat mit kurzfristigen oder aber länger dauernden funktionellen
Veränderungen bzw. Störungen reagiert, wenn interpersonale Beziehungskonflikte
akut oder chronisch auftreten, bzw. wenn die Person mit sich selbst
und ihren Vorstellungen von einem gelingenden Leben in Konflikt gerät.
Können diese Konflikte aus irgendeinem Grund nicht dort bearbeitet werden,
wo sie entstanden sind, also z.B. im emotional- beziehungsmäßigen Raum,
(bzw. in der personalen Selbstvergewisserung) dann verändern sich sowohl
die körperliche, wie die seelische Haltung des Menschen.
Was ich mit meinen bisher erlernten Mitteln (coping-Strategien) nicht
bewältigen kann, das will ich nicht mehr sehen, nicht mehr spüren, nicht
mehr wissen. (Verdrängung)
Was ich aber sehr wohl spüren und wissen kann, das ist dann der Kloß
im Hals, oder die chronische Heiserkeit. Mit diesen kann ich zum Arzt
gehen und sie behandeln lassen.

4.
Psyche und Soma, gefangen im Dualismus, oder was ist Ursache und was
ist Wirkung?
Was wir bis heute über Entstehungsbedingungen und Therapie
von nicht rein organischen Stimmstörungen wissen, ist zwar quantitativ
relativ umfangreich, qualitativ im Sinne gültiger Erklärungsmodelle
geht es jedoch nicht weit über den psychosomatischen Kalauer hinaus,
daß da etwas im Patienten oder für den Patienten "nicht stimme", bzw.
daß seine gestörte Stimme wohl mit einer gestörten Stimmung zusammenhänge.
Wir wissen spätestens seit Einstein, daß uns unsere jeweilige Theorie
vorgibt, was wir sehen. Wir sehen nur, was wir wissen, bzw. was unsere
Untersuchungsinstrumente hergeben.

ARONSON, einer der führenden amerikanischen Stimmheilkundler
drückte es einmal so aus. "If we do not ask about psychological problems,
we do not hear about them. If we do not hear about them, we do not believe
in them. And, if we do not believe in them, we do not ask about them."
(Aronson, 1990, S.288)
Unsere gesamte diagnostische und therapeutische Begrifflichkeit ist
auf die Bilder und Metaphern angewiesen, die sich in einer über 2000-jährigen
Geschichte dualistischer Denksysteme entwickelt haben.
Auch der ernsthafte Versuch einer Zusammenschau, wie ihn die Psychosomatische
Heilkunde seit nunmehr 100 Jahren propagiert, leidet letztlich unter
diesem psychophysischen Dualismus und wird erst ganz allmählich abgelöst
durch die moderne Neuropsychologie, die tatsächlich den Menschen als
bio-psycho-soziale Einheit versteht.
Immer noch ist der klinische Alltag geprägt von einer weithin seelenlosen
somatischen Medizin und ebenso häufig von einer leibvergessenen Psychotherapie
, die überdies beide häufig blind erscheinen gegenüber der konkreten
sozialen und biographischen Lebenswelt ihrer Klientinnen. In der allgemeinen
Praxis der Stimmdiagnostik und -therapie können wir von Glück sagen,
wenn die verschiedenen Fachvertreter sich wenigstens zu Fallkonferenzen
treffen und das gemeinsame Esperanto der Psychosomatik sprechen.
Aber selbst das ist keineswegs allgemein üblich. Der interdisziplinäre
Blick auf die funktionelle Dysphonie, ihre Anerkennung als psychosomatische
Erkrankung ist noch keineswegs gängige Praxis.
Bis heute müssen wir uns letztlich als klinische Praktiker mit dem begnügen,
was Victor von WEIZSÄCKER einer der Väter der deutschen Psychosomatik
schon 1947 unübertroffen formulierte:
"Die Hauptsache beim Verhältnis von Leib und Seele besteht nicht darin,
daß sie zwei Dinge sind, welche nebeneinander da sind und aufeinander
wirken, sondern daß sie einander wechselseitig erläutern. Durch die
Seele werden wir hellsichtig für die unbewußte Vernunft und Leidenschaft
des Leibes, durch den Leib werden wir über die natürlichen Notwendigkeiten
der Seele belehrt. Diese wechselseitige Erläuterung kann natürlich auf
die verschiedensten Arten erfolgen: Erklärung, Phantasie, Ahnung, Schau.
Die erklärende Wissenschaft steht dabei am einen, die Poesie am anderen
Ende der Reihe, die man nicht absichtlich zu zerreißen braucht."
5.
Persönlichkeit und Stimmstörung
Ich will auf das umfangreiche Thema "gibt es eine Beziehung
zwischen Persönlichkeits-Typ und Neigung zur funktionellen oder psychogenen
Dysphonie" hier nicht ausführlich eingehen, Das wäre ein neuer Vortrag..
Es scheint nach der methodisch ausgefeilten und groß angelegten
Untersuchung von EGGER; FREIDL u. FRIEDRICH (1992) fast unmöglich, solche
Zusammenhänge empirisch nachzuweisen, auch wenn wir als Kliniker immer
wieder den Eindruck haben, daß uns in den Dysphonikern bestimmte Typen
von Menschen häufiger begegnen. Es sind aber wohl eher bestimmte Typen
von menschlichen Konfliktsituationen.
In der bisher umfangreichsten Arbeit zum Problem der psychogenen Dysphonien
von STEFANIE KNEIP (2002) kommt die Autorin nach Prüfung aller bisher
bekannter Hypothesen zu folgendem Schluß: Es erscheint nicht mehr sinnvoll,
die dysphonische Symptomatik nur auf einem theoretischen Hintergrund
zu beschreiben.
Ebenso wenig sinnvoll ist es, nach d e r Ursache der Erkrankung
zu suchen. Vielmehr handelt es sich immer um ein komplexes multifaktorielles
Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren miteinander interagieren und
ein rückgekoppeltes Geflecht bilden. Nach eingehender Würdigung dieses
multifaktoriellen Geschehens hält es die Autorin für gerechtfertigt,
"die funktionell-psychogenen Dysphonien ....als Ausdruck einer psychosomatischen
Erkrankung aufzufassen. KIESE-HIMMEL und KRUSE (1996) plädieren in diesem
Sinne sogar für die Verwendung des Begriffs "psychosomatischer" anstelle
"psychogener" Dysphonie". (KNEIP a.a.O. S. 253)
6.
Praxeologische Überlegungen - oder wie sag ich's meinem Patienten?
Ich vermute, daß viele von Ihnen sich jetzt fragen: "Was
können wir denn von den Psychologen lernen, wenn alles so unsicher,
so schwammig und so komplex ist?" Deshalb möchte ich Ihnen doch noch
einige Hinweise geben, auf pragmatische Grundregeln im Umgang mit psychosomatischen
Stimmpatienten, die auch für die nicht-pschotherapeutischen Berufe relevant
sind:
6.1.Überweisungs-Kontext und Umgang mit dem diagnostischen
Wissen
Überall dort, wo die HNO-ärztliche, oder phoniatrische
Untersuchung zunächst unabhängig von der psychologischen erfolgt, sollten
die folgenden Leitlinien beherzigt werden:
-
Auch ohne organischen Befund handelt es sich bei der
zunächst als funktionell bezeichneten Dysphonie um eine echte Erkrankung
und nicht um etwas "Eingebildetes", d.h. das Leiden desPatienten und
seine Wahrnehmung werden empathisch kommentiert und wertgeschätzt.
-
Die Patientinnen sind in der Regel bewußt in eine
medizinische oder heilpädagogische Einrichtung und nicht zum Psychotherapeuten
gekommen. Wird in der Diagnose die psychische Dimension erwähnt,
dann hegen viele die Befürchtung, es werde in den dunklen und schmerzhaften
Winkeln ihrer Vergangenheit gestöbert. Der für sie unerwartet auftauchende
Verdacht einer Psychogenese bekommt leicht den Charakter einer
Verdächtigung im Sinne von : "Wer auf diese Weise krank ist, ist
selber schuld dran, hat falsch gelebt, versteckt etwas Schlimmes vor
sich und den Andern usw."
Die Folge ist Abwehr, bzw. Abbruch oder Nichtaufnahme der Behandlung,
wie in unserem zweiten Fallbeispiel (die Sängerin).
Jeder Versuch einer zu frühen Deutung der Symptomatik als psychisch
bedingt, sollte deshalb vermieden werden, außer die Patientin äußert
diese Vermutung selbst.
-
Im Gegensatz zu der nach hinten gerichteten Befürchtung
ist es daher umso wichtiger die nach vorne gerichteten Lösungsorientierung
zu betonen. Es geht nicht um die kriminalistische Frage: "was ist
den falsch gelaufen in meinem Leben?", sondern um das gemeinsame Herausfinden
von Fähigkeiten und Ressourcen und um das Entwickeln neuer
Verhaltensweisen, die die Belastung vermindern.
6.2 Gestaltung des therapeutischen Prozesses (dies gilt nun für
die fachspezifische Behandlung durch ausgebildete Stimmtherapeuten, bzw.
auch Psychotherapeuten):
- Die Behandlung eines stark somatisch fixierten Patienten (bei
dem gleichwohl der Diagnostiker deutliche psychische Komponenten wahrgenommen
hat) sollte zunächst streng am Somatischen orientiert beginnen.
Möglicherweise erst nach einer längeren Phase der somatisch orientierten
Behandlung kann der Patient von sich aus Zusammenhänge zwischen seiner
Heiserkeit und einem psychischen Konflikt wahrnehmen.
- Umgekehrt scheint es z.B. bei stark selbstkontrollierenden Patienten
keineswegs günstig, wenn die logopädische und/oder die psychothera-peutische
Behandlung zu eng an der Symptomatik arbeitet, da hierdurch die Fixierung
auf das Leiden verstärkt wird und die Ressourcen aus dem Blickfeld
geraten. "
- In den klassischen psychosomatischen Fällen geht es um die Änderung
von Fehlhaltungen, die mehr im zentralen Bereich verankert sind. Und
hier nutzen wir den Doppelsinn des Begriffs "Haltung" im körperlichen
und im übertragenen psychischen Sinne. Häufig reicht es bei lange
bestehenden Fehlhaltungen eben nicht aus, wenn der psychische Konflikt
gelöst ist. Die habitualisierten Fehlhaltungen müssen begleitend auf
der körperlichen Ebene bearbeitet werden: Der psychisch-kognitive
Erkenntisprozess (ich habe mich überfordert, um meine Trauer und
Sehnsucht nicht zu spüren) wird unterstützt und begleitet von der leiblichen
Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn man nicht mehr so verspannt,
nicht mehr in Kontroll-und Hab-acht-Stellung ist. Umgekehrt tauchen
z.B. bei Atemübungen plötzlich starke Emotionen auf, die -unmittelbarer
als das Gespräch - Inhalte des Unbewußten wiederspiegeln. Sie werden,
wenn es ideal läuft, wiederum in der verbalen Nacharbeit verständlich
gemacht und in den lebensgeschichtlichen Kontext integriert.
- Hier wie dort wird das Nicht-mehr-Wahrgenommene, das im Schema
der falschen Gewohnheit Versteckte, wieder wahrnehmbar, fühlbar, erlebbar
und damit veränderbar gemacht.
6.3 Therapeutische Beziehung und interdisziplinäre Kooperation
- Es geht nicht um eine Be-Handlung, bei der es einen (Be-)Handelnden
und einen (Be)-Handelten im Sinne einer Einbahnstraße gibt, sondern
es geht um eine Interaktion, einen dialogischen Prozess über
die richtige Einschätzung der nächsten Schritte. Nicht auf die Komplettierung
meines Wissens über die Patientin kommt es in erster Linie an,
sondern wichtiger ist es, ihr Wissen über sich zu fördern und
dazu muß ich auch ihr Nicht-Wissen-Wollen über sich selbst ernst nehmen
und akzeptieren.
Wird dieser Umstand - wie so oft im ärztlichen Setting - übersehen,
dann ergeben sich die klassischen Behandlungs-Widerstände der Patienten.
- Die enge Kooperation der verschiedenen Disziplinen wird nicht
nur dem Umstand gerecht, daß es sich immer um ein multifaktorielles
Geschehen handelt, sondern sie kann auch dem Patienten zeigen, daß wir
mit allem uns zur Verfügung stehenden Sachverstand und in gemeinsamer
Arbeit mit ihm herausfinden wollen, was ihm am besten hilft.
- Wenn wir den Charakter funktioneller und psychogener Stimmstörungen
als Beziehungsstörung ernst nehmen, dann müssen wir - egal ob wir Ärzte
Logopädinnen, Sprachheilpädagogen oder Psychologen sind - unser persönliches
Bezogen-Sein bewußt annehmen und aus diesem Wissen heraus die Nähe und
Distanz in der Beziehung zur Patientin bewußt gestalten. Wenn die Patientin
spürt, daß ich als Dialogpartner von ihrem Leiden berührbar bin, kann
sie vielleicht selber die Decke ihrer Abwehr lockern und sich von ihrem
eigenen Gefühl berühren lassen.
Je intensiver wir uns auf die Leidensgeschichte eines Menschen einlassen,
um so eher wird uns gelingen diesen Menschen nicht nur zu verstehen,
sondern auch sympathisch (= mit-leidenswert) zu finden, was für einen
intensiven therapeutischen Prozeß letztlich unabdingbar ist.
Ich hoffe Ihnen mit diesen Ausführungen einen Türspalt geöffnet zu haben
in die labyrinthischen Räume psychotherapeutischer Arbeit mit Stimmpatienten.
Wie weit Sie die Türe für sich noch öffnen wollen, bleibt Ihrer Neugier
und Ihrem Mut überlassen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
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